Sehr schnell kann es passieren, dass wir unsere Mitmenschen überschätzen oder falsch einschätzen.

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Wenn Zeit und Kraft fehlen

Sicher haben Sie es in diesem Sommerurlaub auch bemerkt: Kleine Unternehmen in der Gastronomie sind derzeit stark herausgefordert, weil Mitarbeiter fehlen. Im Service arbeiten oft neben Vollzeit- auch Teilzeitkräfte, die ständig koordiniert werden müssen und manchmal nicht so reinfinden in das Team. Das kostet viel Energie. Oder eine wichtige Mitarbeiterin wird länger krank. Manchmal stimmen die Arbeitsbedingungen nicht oder das Zwischenmenschliche klappt nicht.

Das passiert auch in der Familie, wenn die Pflege der Eltern mit Geschwistern und Pflegekräften abgestimmt werden muss. Oder im Homeoffice, wenn Kinder den zeitlichen Rahmen sprengen. Das kann auch in der Nachbarschaft passieren, wenn Dienste automatisch vom anderen erwartet werden, ohne darüber zu sprechen.

Auch in einer Ehe oder unter Freunden kann es leicht zu Missverständnissen kommen, die zu belastenden Konflikten führen. Besonders dann, wenn unausgesprochen Kompetenzen, Zeit und Kraft erwartet werden, die so gar nicht zur Verfügung stehen. Besonders stressig kann es werden, wenn wir Situationen oder Mitmenschen falsch einschätzen, egal, ob Kollegen, Nachbarn oder Freunde.

Wo bleiben die kreativen Spielräume?

Dabei habe ich immer wieder beobachtet: Bei der Fehleinschätzung der anderen hört es nicht auf. Auch meine eigene Belastbarkeit habe ich manchmal überschätzt. Ich habe mich vor vielen Jahren selbstständig gemacht, um dem von mir sehr einseitig empfundenen Arbeitsalltag zu entfliehen. Für mich klang der Begriff „Rolle“ negativ. Damit verknüpfte ich ein aufgesetztes Verhalten, das nicht wirklich von innen motiviert ist: Andere schreiben das Drehbuch und du musst nach ihrer Pfeife tanzen.

Wo bleiben da die kreativen Spielräume? Ich möchte einen großen Teil meiner Lebenszeit nicht damit verbringen, für den Broterwerb irgendetwas zu machen, um dann nach Feierabend zu leben. Ich suche Gestaltungsfreiheit. Ist es nicht viel lebendiger, möglichst bei allen Prozessschritten beteiligt zu sein? Auch in meiner Familie war es sehr wichtig, sich für keine Aufgabe zu schade zu sein und so viel wie möglich zu können. Ich bin also eher ein Universalist. Doch manchmal sieht man dann vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.

Überforderung in der Bäckerei

Eine ähnliche Erfahrung berichtet mir die Leiterin einer Bäckerei. Sie kann alles. Was dazu führt, dass sie um 4.00 Uhr morgens in der Backstube steht und das Brot bäckt. Anschließend frühstückt sie, zieht sich um und ab 9.00 Uhr steht sie im Laden und verkauft das Brot. Nachdem der Laden geschlossen hat, geht sie ins Büro und organisiert den Einkauf und alles, was mit dem Anbau des Korns zu tun hat. Gemeinsam mit ihrem Mann betreibt sie einen eigenen Bauernhof.

Außerdem sind da noch drei Töchter und ein erfolgreiches Projekt „Ausflug zum Bauernhof“ hat sie auch am Start. Längst ist der Umfang der Arbeit so hoch, dass sie Mitarbeiter eingestellt hat. Doch wenn Not am Mann ist, muss sie überall selbst einspringen. Bei so vielen Aufgaben hat sie die Motivation verloren und überlegt sich, ob sie aufhört mit ihrem Herzensprojekt.

Wenn wir zu hohe Erwartungen an uns selbst haben, kann das dazu führen, dass wir die Freude am freien Gestalten komplett verlieren. Nach und nach habe ich verstanden, dass zu enge Rollenbeschreibungen die Leidenschaft töten können. Das Gleiche erlebt auch der „Hans Dampf in allen Gassen“, der für sich keine klaren Grenzen definiert – er verliert die Verbindung zu seiner Berufung.

Voller Kalender und innerlich doch leer

Heute ist mir klar, dass ich weder die Möglichkeiten der anderen noch meine eigenen einfach so ändern kann. Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass ich in die Falle unangemessener Erwartungen tappe. Im Grunde passiert es dann, wenn ich den Zugang zu meinem Grundvertrauen verliere, das mir sagt, es ist so, wie es ist, und wir werden einen Weg finden.
Unter hoher Belastung gerate ich aus der Ruhe, und das hat merkwürdige Auswirkungen.

Ich lese während eines Telefongesprächs meine E-Mails, ertappe mich, wie ich nicht mehr aufmerksam zuhöre, und manchmal rede ich bei Freunden über andere auf eine Weise, was ich sicher nicht sagen würde, wenn die Person im selben Raum wäre. Manchmal werde ich patzig oder gar laut in wichtigen Treffen oder bin ungeduldig, wenn ein Familienmitglied eine Bitte äußert. Zunehmend reagiere ich gereizt und unangemessen.

Wenn mir mein Gewissen kurz vor dem Einschlafen sagt: „So kannst du aber mit Menschen nicht umgehen“, finde ich gute Gründe für mein Verhalten und gelobe Besserung. „Morgen werde ich es besser machen.“ Anstatt zu erkennen, dass mein Einfühlungsvermögen müde ist, erhöhe ich das Tempo.

Doch damit verstärke ich die Spirale: Ich spüre keine Begeisterung mehr für Menschen und werde auch meinen eigenen Vorstellungen nicht mehr gerecht. Obwohl ich alle Hände voll zu tun habe, verliere ich die Freude an dem, was ich tue, und meine eigene Ausrichtung. Innere Werte verblassen. Ich behandle mich selbst wie ein Objekt.

So geht es nicht weiter

Wenn ich innehalte, merke ich, dass ich so nie werden wollte. Im Gegenteil: Meine Vision ist es, dass Menschen ihre von Gott gegebene Einzigartigkeit neu entdecken und sie erfüllt und fruchtbar leben. Das steht auf dem Papier in einem Ordner meines Regals. Doch wie sieht es im Alltag aus? Manchmal machen mich die äußeren Anforderungen taub für die innere Stimme des Herzens.

Diese Stimme ist wie ein Kompass, dessen Nadel durch das Magnetfeld ganz von selbst zum Nordpol zeigt. Von diesem Punkt aus kann ich mich orientieren und finde dann wieder die passende Fahrtrichtung. Doch wenn der Kompass in seinem Etui in der Reisetasche bleibt, kann er nichts zur Orientierung beitragen.

Diese innere Sehnsucht möchte sich mit anderen verbinden um ihrer selbst willen, von Mensch zu Mensch. Ich möchte gemeinsam Lösungen suchen, in denen wir unsere Vorstellungen entfalten können. Das hilft, falsche Erwartungen loszulassen und gute Lösungen zu finden.

Herzliche Einladung zum Entdeckerwochenende

Ich lade Sie herzlich zu meinem nächsten Entdeckerwochende auf dem Gutshof ein. Spüren Sie Ihrer inneren Sehsucht nach und suchen Sie im Austausch mit anderen nach konkreten Lösungen, um Ihre Vorstellungen zu entfalten.


Ilona Dörr-Wälde