Heute morgen sitze ich an meinem aufgeräumten Schreibtisch. Ein Hochgefühl durchströmt mich. Tatsächlich bin ich mit meinen Aufgaben auf dem laufenden. Jetzt kann der Tag beginnen. Doch dann werden plötzlich alle Pläne über den Haufen geworfen

Fokus
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Es kommt oft anders als man denkt

Nach dem Morgengebet gehe ich zu der geplanten Besprechung in die Bibliothek. Nach diesem Treffen ist plötzlich alles anders. Zwei liebgewonnene Menschen, die sich voll eingebracht haben, entdecken für sich, dass der Weg für sie wo anders weitergeht. Diese Veränderung nach Monaten der ständigen Veränderung überfordert mich.

Das Hochgefühl schlägt in Schmerz um. Als ich wieder an meinem Schreibtisch sitze fühle ich mich platt. Nachdem ich die erste Schockstarre überwunden habe, kommt der Pragmatiker in mir wieder auf die Füße. Die Zeit läuft. Das Leben hier auf dem Gutshof muss weitergehen.

Das schaffen wir schon!

Das Jonglieren mit vielen Baustellen ist nichts Neues. Das werden Rainer und ich auch bewältigen, denke ich. Also nütze den Tag! Ich merke, dass ich jetzt einen Zahn zulegen muss. In den kommenden zwei Seminartage, die wir dank niedriger Inzidenz durchführen können, bin ich Trainer. Gleichzeitig ruft der Garten und der Hof, die Verwaltung, das Telefon, der Sperrmüll, den ich organisiert habe.

Ich halte kurz inne: Eigentlich bin ich die Führungskraft, die diese einschneidende Veränderung auf der Metaebene einschätzen und entsprechende Entscheidungen treffen muss. Wie gestalten wie den Abschied? Wo und wenn suchen wir für welche Aufgaben? Was muss dafür in die Wege geleitet werden? Wie geplant beginne ich das Probekapitel für ein neues Buch zu schreiben. Und tatsächlich versuche ich für kurze Zeit alles nebenher zu bewerkstelligen.

Wenn sich alte Muster wieder melden

Mal eben noch das Unkraut jäten. Schnell im Büro, in die Mails checken, den AB abhören, um niemanden zu übersehen. Am Schreibtisch der Mitarbeiterin im Büro erlebe ich eine Erinnerungsrückblende. Das Gefühl ist so ähnlich wie vor einigen Jahren.

Da saß ich schon mal an einem fremden Schreibtisch. Spontan hörte ich die Frage in mir: „Was machst Du hier eigentlich?“ Damals brachte mich der Antreiber: „Ich schaffe das“ in das Hamsterrad. Dahinter stand der Antreiber “Erfolg” zu haben.

Ein Virus „Immer schneller, immer höher, immer weiter“ hatte mich befallen. Irgendwann hatte ich alle Hände voll zu tun. Aber untern Strich verlor ich die Richtung. Eine wichtige Lernkurve für mich war, dass „die Zeit auskaufen“ nicht bedeutet, so viel wie möglich hinein zu stopfen und sich immer mehr selbst zu optimieren.

Dieses Verständnis kann eine toxische Auswirkung haben. Ohne es zu merken, ist man gefangen in Abläufen, die zwar die Zeit füllen aber nicht wirklich Frucht hervorbringen. Jetzt treibt mich weniger der Erfolg. Es ist real viel mehr zu tun. Diese Situation löst das alte Verständnis aus. Arbeite einfach schneller und effektiver.

Die Chance zu heilsamen Veränderungen nicht verpassen

Mir kommt die Kernthese von Hartmut Rosa in den Sinn: „Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung.“ Natürlich interessiert mich brennend, welche Chancen der gesellschaftlichen Veränderung durch die Corona-Krise möglich sind. Was kann ich dazu beitragen, dass wir einige negativen Strukturen überwinden und gesünder weiterleben?

In der Theorie träume ich von einer besseren Welt. Jetzt hat mich der Alltag voll im Griff und ich denke nur von Tag zu Tag.
In der Nacht, wenn alle praktischen Aufgaben ruhen meldet sich mein Herz. Ich spüre die tiefe Trauer. Wie sehr ich Menschen vermisse, Ihr Lachen, Ihre Handbewegungen, Ihre Atmosphäre, die sie verströmt haben, einfach ihr Dasein.

Vorstellungen von der Zukunft, Chancen, die in dem Miteinander liegen, werden lebendig. Mein Herz kommt in Bewegung. Es tut weh, das alles loszulassen. Und gleichzeitig werde ich dankbar für das was wir miteinander hatten. Ist es das was Rosa mit Resonanz meint? Ein Herz, das sich berühren lässt und nicht abstumpft?

Sich auf das wesentliche fokussieren

Einfach aufholen, mit den gleichen Mitteln noch schneller weitermachen? Das hat wenig mit dem Thema „Die Zeit auskaufen“ zu tun. Worauf sollen wir uns fokussieren, ganz persönlich in unserer Gutshof-Situation und in unserer gesellschaftlichen Situation?

Ich erinnere mich an ein Zitat aus dem Epheserbrief. Der Autor lädt seine Leser ein: „Lebt, wie Menschen, die wissen, worauf es ankommt und nützt eure Zeit auf gute Weise.“ Es geht darum, das Wesentliche im Blick zu halten. Was macht dein Herz lebendig? Wo berührt dich der heilsame Geist?

Nein, ich schaffe nicht alles. Ich brauche Hilfe und gerade jetzt ist es wichtig, den Überblick zu behalten und aufmerksam zu sein für gute Impulse. Ich vertraue mich der göttlichen Liebe an und halte Ausschau nach guten Möglichkeiten.

Emotional bin ich sehr herausgefordert. Wie gut, dass es einen Ort der Ruhe gibt. Wie gut, dass es Freunde und Gefährten gibt.

Fokus: Alles hat seine Zeit

Spontan reservieren wir nicht nur Zeit für das Morgengebet, sondern beginnen wieder mit dem Abendgebet. Ganz bewusst denken wir an unsere Freunde und segnen sie. Ich nehme mir Zeit für den Prozess des Abschieds. Dankbar spüre ich der wertvollen gemeinsamen Zeit nach.

Wir trauen uns, Freunden und Gefährten über die aktuelle Situation zu informieren. Gebete, segnende Worte und ganz praktische Hilfe kommen auf uns zu. Das Netz des Lichtes, von dem ich in der letzten Ausgabe geschrieben habe, trägt. Der Tunnelblick weitet sich für neue Möglichkeiten.

Indem ich mich auf das Wesentliche neu fokussiere, finde ich aus dem Hamsterrad wieder heraus. Hoffnungsvoll wächst in mir eine Vorstellung für die kommenden Monate und ich spüre neue Freude an meinen Aufgaben.


Ilona Dörr-Wälde