Im aktuellen Umbruch wird eine neue Fähigkeit gebraucht: die Veränderungskompetenz. Sie hilft uns, in einer sich schnell ändernden Welt zurechtzukommen und souverän zu agieren.

Veränderungskompetenz

Notarzteinsatz auf der Bahnstrecke

Ich bin auf der Rückreise von einem Seminar und fahre zum Bahnhof. Ein flaues Gefühl macht sich bemerkbar. Wird die Reise reibungslos verlaufen? Die Anzeigetafel signalisiert 90 Minuten Verspätung. Das wirft alles durcheinander. Für einen Moment bin ich geschockt. Ob ich heute nach Hause komme, ist ungewiss. Im Reisezentrum treffen sich die Gestrandeten und warten geduldig auf ihre alternativen Zugverbindungen.

Als ich an die Reihe komme, erhalte ich tatsächlich einen neuen Fahrplan. Ich muss zwar einmal mehr umsteigen, doch ich werde heimkommen. Spät am Abend sitze ich in einem hoffnungslos überfüllten Zug. Jetzt bin ich nur froh zu fahren. Noch mal gut gegangen, denke ich und entspanne mich.

Das ist nur ein Beispiel für die ständigen Veränderungen im Alltag. Es läuft nicht so wie erwartet. Oder nicht so, wie wir es gewohnt sind. Eine Woche vor Seminarbeginn melden sich noch drei Teilnehmer an. Dafür kommen immer häufiger angemeldete Teilnehmer nicht. Auf einen Arzttermin muss ich sieben Monate warten und bei der Autowerkstatt kommt ein Ersatzteil erst in vier Wochen.

Wenn Veränderungen uns lähmen

Da kann das Nervenkostüm schon mal aus der Fassung geraten. Wie gelingt es uns, in emotional herausfordernden Situationen zuversichtlich zu bleiben? Die Reaktion auf unvorhergesehene Veränderungen können uns lähmen oder wir wüten dagegen an.
Beides kostet Energie und lenkt die Aufmerksamkeit vom urgesunden Leben ab.

Auf dem Bahnsteig spürte ich den Impuls, lautstark über die Bahn zu schimpfen. Zu meiner inneren Wut sage ich, vielleicht hast du recht und hier müsste dringend ein System verbessert werden. Jetzt gerade ist es so, wie es ist. Langsam entspanne ich mich. Dann stelle ich mir die Frage: „Was ist meine persönliche Absicht?“ Die innere Stimmung ändert sich und der Drang, nach Hause zu kommen, übernimmt das Ruder.

Ich blicke nach vorn und mir kommt die passende Idee. Ich hole mir die nötigen Informationen und fahre mir einem anderen Zug. Vielleicht sind die Probleme der Bahn nicht mit großen beruflichen oder einschneidenden persönlichen Veränderungen zu vergleichen. Beim Reflektieren leuchteten fünf Punkte auf, die helfen, mit unbeabsichtigten Veränderungen kompetent umzugehen.

Die Situation annehmen, wie sie ist

In vielen Bereichen des Lebens findet ein Wandel statt. Das kann anstrengend sein und vielleicht auch zunächst Nachteile mit sich bringen. Die Wohlfühlzone wird herausgefordert. Veränderung findet statt, ob ich das gut finde oder nicht. In der Natur bedeutet Wandlung lebendiges Leben. Es ist also etwas ganz Normales.

1.Die aktuelle Situation gut einschätzen

Nicht alles, was sich bewegt, ist automatisch positiv. Ärger, Überforderung und Ohnmacht sind berechtigte Reaktionen. Auch Gleichgültigkeit und den Wunsch, einfach den Status quo einzuhalten, kann ich gut nachvollziehen. Wie wäre es, wenn wir mit diesen Gefühlen ins Gespräch kämen und erkundeten, was dabei berechtigt ist? An welcher Stelle kann ich konkret Einfluss nehmen und im Hier und Jetzt ins Handeln kommen?

2. Die Aufmerksamkeit auf eine konkrete Absicht lenken

Die innere Ausrichtung auf ein höheres Ziel entscheidet in komplexen und alltäglichen Situationen, ob Ressourcen sinnvoll eingesetzt werden. Wenn ich weiß, wo ich hin möchte und wofür ich morgens aufstehe, habe ich einen inneren Kompass. Ein Unternehmer aus der Textilbranche erzählte mir, wie seine Firma durch die rasante Veränderung auf dem Markt am Ende war. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern hat er seine ganze Aufmerksamkeit auf das Motto gerichtet: „Wir werden den Kauf von nachhaltiger Sportkleidung ermöglichen.“ Drei Jahre später ist ihnen das gemeinsam gelungen.

3. Ideen sprudeln lassen

Energien, die sich auf ein Ziel ausrichten, das zu den Möglichkeiten passt und durch das das Handlungsfeld klar wird, lassen gute Ideen sprudeln. Manche nennen das die kreative Phase.
Informationen recherchieren, sammeln, ausprobieren, auswerten, neu probieren und gute Lösungen finden.

4. Kompetente Partner suchen

Spätestens jetzt wird klar: Allein werden wir das Neue nicht finden. Das Zusammentragen hilfreicher Informationen, kreativer Kräfte und realer Umsetzungsmöglichkeiten geht nur mit kompetenten Partnern. Wie gut, wenn Mitreisende den Weg zum Reisezentrum kennen und ein Mitarbeiter am Computer aus dem komplexen Schienennetz den richtigen Zug ermitteln kann.

5. Zielgerichtet handeln

Sicher braucht es Mut, neue Wege zu gehen. Es fehlt noch die Erfahrung. Hinter der nächsten Kurve finden sich neue Risiken. Vielleicht gehe ich erst fehl. Vielleicht muss ich am Ende noch mal die Richtung ändern oder ganz anders vorgehen.

Auch auf meiner Zugfahrt musste ich noch dreimal neue Verbindungen suchen. Gegen 23.00 Uhr war ich glücklich, dass ich den letzten Zug nach Treysa noch erreichen konnte. Als ich am Gleis ankam, traute ich meinen Augen nicht. Ein Zug nach Gießen stand abfahrbereit am Bahnsteig. Nein, das darf jetzt nicht wahr sein. Der Schaffner bat mich einzusteigen. Der ursprüngliche Zug hat einen Schaden. Deshalb fahren sie ein Stück mit diesem, steigen dann um und werden nach Treysa kommen. Seiner Aussage vertrauend stieg ich ein.

Meine Nachbarin hatte auch einen anstrengenden Reisetag und schimpfte am Stück über die Zustände der Bahn. Ich war müde, hatte seit Stunden mein flexibles Handeln trainiert und war nicht mehr offen für eine anstrengende Stimmung. Für einen kurzen Moment war ich verzweifelt. Dann erinnerte ich mich. Es ist so, wie es ist. Welche Möglichkeit habe ich? Wir werden nach Hause kommen. Ich fragte meine Nachbarin, ob sie beruflich unterwegs sei, und tatsächlich kamen wir noch in ein nettes Gespräch.

Deshalb möchte ich noch einen sechsten Punkt ergänzen: Veränderungskompetenz zu trainieren entspricht eher einem Marathonlauf als einem Sprint.


Ilona Dörr-Wälde